Sprüche und Geschichten


Letzte Änderung 30.05.2000


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The Touch     (von Harald Röker)

Ich stehe vor meinem Boulderprojekt. Ein eiskalter Wind jagt Gänsehaut über meinen bloßen Rücken. Ich bin hyper nervös und versuche mich mit der langjährig eingespielten Chalkzeremonie zu beruhigen und die nötige Konzentration zu finden: in den Beutel greifen, Chalk verreiben, Hände an den Hosen abstäuben, Finger sauberpusten - immer wieder die gleichen Bewegungen, scheinbar endlos, wie eine Art Selbsthypnose. Eine wachsende Magnesiawolke hüllt mich ein, ich werde ruhiger, meine Hose gleicht einem Chalkpad, der Wind streicht an mir vorüber, dem Rücken ist’s egal. Endlich nehme ich die ersten beiden Griffe unter die Finger, die ganze Umwelt wird zu einem weit entfernten, leisen Rauschen. Alle Bewegungen kommen fließend, kein Stocken, kein Zögern, kein Nachgreifen, jede Bewegung sitzt, schnell und präzise. Ich fühle mich leicht, kein Schmerz von den kleinen Griffen, die die Fingerspitzen zerquetschen, dringt bis zum Bewußtsein durch. Die Griffe der Startpassage fliegen an mir vorüber, der Körper schwingt von links nach rechts, die Füße bringen Druck, hakeln, geben Tritte frei, exakt und selbstverständlich, als hätten sie ein eigenes Denken entwickelt. Anstatt den Körperschwung in der zweiten Schlüsselstelle wie üblich wegzupressen, fühle ich, wie die Energie irgendwie in die nächste Bewegung umgeleitet wird, der Körperschwerpunkt scheint aufgelöst, Hände und Füße bewegen sich wie von selbst. Die nächsten Züge klettere ich schnell und wie in Trance, Körper quer, Sinterzange, Kreuzzug. Den rechten Fuß diesmal richtig eingedreht, der andere preßt gegen, alles fühlt sich stabil an, der linke Oberarm federt den gemeinen Durchsacker ab, als ob es das natürlichste der Welt wäre, tief in mir löst sich ein Schrei, ich bemerke ihn nicht, der nächste Griff bleibt an meinen Fingern hängen. Noch zweimal weiterschnappen, der flache Abschlußhenkel klatscht kühl und angenehm an meine Handfläche, es ist vorbei. Der nächste Schrei läßt den Bann platzen, die Welt wird wieder real, der ganze Körper beginnt zu zittern, die Fingerspitzen explodieren, totale Erschöpfung macht sich breit, in den Baumwipfeln verschwindet eine letzte Windbö, zurück bleibt eine sonderbare Stille.