Felsmagie in Hinterstein

 

Text: Ulrich Röker

 

Ein etwas hochtrabender und irreführender Titel könnte man meinen, aber dass dieser durchaus seine Berechtigung hat, sollen die folgenden Zeilen veranschaulichen. Wir laden Euch ein auf eine Reise zu diesem wunderbaren Bouldergebiet im Herzen der Allgäuer Alpen.

Ausgangspunkt für unsere kleine Reise ins Boulderparadies Hinterstein ist Hindelang, welches als Wintersportort und Startpunkt der Passstraße zum Oberjoch mit Übergang ins Tannheimer Tal den meisten ein Begriff sein dürfte. Hier zweigt etwas unscheinbar ein schmales Seitental ab, welches sich nach einigen Kilometern Fahrtstrecke zu einem breiten, sonnigen Talkessel weitet. Man folgt der Straße durch das "Vordere Dorf Hinterstein", bis man am Ende der öffentlichen Fahrstraße beim "Hinteren Dorf Hinterstein" schließlich einen großen Wanderparkplatz erreicht. Am gegenüberliegenden Hang ist vom Parkplatz aus bereits ein mächtiger Felssturz zu erkennen, der sich, knapp 300 m von den letzten Häusern Hintersteins entfernt, auf der anderen Seite des Flusses "Ostrach" befindet. Und genau dieser Felssturz ist auch das Ziel unseres Ausflugs in die faszinierende Welt des Boulderns, denn hier findet sich eine wahre Perle für Liebhaber des Spiels mit der Schwerkraft an den kleinen Blöcken.

Vom Parkplatz aus folgt man einem Wiesenpfad, der über sanft abfallende Almwiesen hinab in die etwas tiefer gelegenen Ortsteile des kleinen Gebirgsdorfes führt. Vorbei am "Kiosk Petra Wechs", wo es unter anderem leckeren Kuchen gibt, verlässt man kurz darauf den Ort und hält schnurstracks auf die "Ostrach" zu, den breiten, aber hier eher gemächlich dahinfließenden Gebirgsfluss, der dem Tal seinen Namen gab. Über eine überdachte Brücke überwindet man dieses letzte Hindernis vor dem eigentlichen Ziel, biegt direkt nach der Brücke links ab und erreicht wenig später die Ausläufer des Felssturzes. Wo man vor 1964 noch auf saftige Almwiesen und dichten Bergwald getroffen wäre, türmt sich heutzutage ein wahres Gebirge aus wild übereinander geschobenen Felstrümmern jeder Größe.

Damals war es nämlich, als zwischen den Jahren 1964 und 1966 über einen längeren Zeitraum hinweg Teile des Berges zwischen Elpenalpe und Sulzbachwand ins Rutschen geraten sind. Gigantische Mengen an Dolomit- und Mergelbrocken jeder Größe haben sich damals mit vernichtender Gewalt ins Tal gewälzt. Der Bergwald wurde dabei im zentralen Bereich des Felssturzes komplett niedergewalzt und noch heute findet man zwischen den Blöcken die Überreste mächtiger Nadelbäume, die in diesen Tagen wie Streichhölzer geknickt wurden. Glücklicherweise ging der Rutschungsvorgang in jenen Tagen eher langsam vonstatten, so dass keine Verluste an Menschenleben zu beklagen waren. Eine Gedenktafel am unteren Ende des Felssturzes schildert das damalige Naturereignis.

Obwohl der Felssturz bereits seit vielen Jahren von Einheimischen als Ziel für Ausflüge genutzt wurde um - häufig mit der gesamten Familie - im Felsgewirr herumzukraxeln, wurde der Ort erst im Jahr 2006 als perfektes Ziel für den Bouldersport erkannt. Mit der Erschließung eines ersten Boulderparcours**, der damals 33 Einzelprobleme aufzuweisen hatte, wurde in diesem Jahr der Grundstein für eines der besten Bouldergebiete des gesamten Alpenraumes gelegt.

Aus den damals noch kleinen Anfängen, die bereits in der 1. Auflage des Allgäuer Boulderführers dokumentiert wurden, ist mittlerweile ein tolles Bouldergebiet entstanden, welches zumindest in Deutschland wohl seinesgleichen sucht. Mit über 670 gekletterten Einzelproblemen in nahezu allen Schwierigkeitsgraden von "geeignet für Anfänger" bis zu Fb 8b gehört das Blockfeld mit zu den boulderproblemreichsten Boulderspots des Alpenraums.

Ganz nach dem Vorbild von Fontainebleau, gibt es hier auch 5 Boulderparcours, die sich durch den gesamten freiliegenden Teil des gewaltigen Felssturzes schlängeln. Die Schwierigkeiten dieser Parcours sind der Art, dass eigentlich für jeden Besucher etwas geboten ist.

Ein mit gelber Farbe gekennzeichneter Parcour bietet den Einsteigern im Bouldersport ein reichhaltiges Betätigungsfeld. Bei den insgesamt 107 Einzelproblemen des Parcours im Schwierigkeitsgrad „PD“ (Abkürzung für "Peu Difficile" auf deutsch "wenig schwierig") hat man auf insgesamt etwa 400 m Kletterstrecke eine ganze Menge zu tun, zumal man so ganz nebenbei bei einer Begehung noch den halben Felssturz durchqueren muss. Wer es bereits etwas anspruchsvoller mag, dem steht im nächsten Schwierigkeitslevel ein orangefarbener Parcour mit 78 Einzelproblemen zur Verfügung, der mit AD+  bewertet wurde. Wem auch das noch nicht Herausforderung genug ist, der kann sich an 2 blau markierten Parcours mit 70 (TD+) sowie 67 Einzelproblemen (TD) ausgiebig die Finger lang ziehen. Auf die ganz harten Jungs und Mädels wartet schließlich noch ein knallharter schwarzer Parcours (ED++) mit insgesamt 77 Einzelproblemen, die Schwierigkeiten bis zu  Fb 7c+/8a aufzuweisen haben.

Wem dieses Angebot immer noch nicht reichen sollte, dem sei gesagt, es gibt nicht nur trassierte Parcours im Gebiet, sondern darüber hinaus noch jede Menge zwar markierte, aber nicht in Parcours eingebundene Einzelprobleme zu entdecken. Diese finden sich in großer Zahl im freiliegenden Blockfeld, aber auch im angrenzenden Bergwald. Dort trifft man immer wieder auf mächtige Felsbrocken, die exzellente Boulderprobleme zu bieten haben. Und das Tolle an der Sache: die Wälder sind bei Weitem nicht so stark verblockt, wie der freiliegende Teil des Felssturzes. Mit anderen Worten: das Absprunggelände ist hier häufig deutlich besser. Dafür liegen die einzelnen Blöcke dann auch nicht mehr so nahe beieinander und man muss schon etwas Spürsinn entwickeln, um auf verschlungenen Pfaden die Blöcke zu entdecken.

Und eine Entdeckungsreise ist es wahrlich, denn immer wieder trifft man unvermittelt im dichten, verwunschenen Bergwald auf geniale Dolomitbrocken, die Mutter Natur vor gerade mal 50 Jahren mit vernichtender Gewalt ins Tal geschoben hatte. Heute - zumindest für Boulderfreunde - ein wunderschönes Ziel, um ihre Kräfte an den von der Natur gestellten Problemen zu erproben.

Wer sich durch das Blockgewirr arbeitet, wird rasch feststellen, dass die Art der Kletterei im Gebiet sehr vielfältig ist. Von der geneigten Reibungsplatte bis hin zum mächtigen Dach findet man nahezu alles, was das Bouldererherz begehrt. Im Unterschied zu den vielen Urgesteingebieten des Alpenraums sind die Boulder in Hinterstein jedoch technisch häufig ziemlich anspruchsvoll, was im Umkehrschluss aber keinesfalls bedeutet, dass man hier keine Kraft benötigen würde. Ganz im Gegenteil, auch in Sachen Athletik sollte man über ordentliche Reserven verfügen, denn ein nicht unerheblicher Teil der Boulderprobleme ist doch recht steil. Die Kletterei an den vornehmlich Dolomit- und manchmal auch Mergelblöcken gestaltet sich wie eine Art Stil-Mix aus Sandstein und Gneis, einem bunten Mix aus Leisten und Slopern, manchmal erstaunlicher Reibung, vielfach sehr körperkraftbetont und mit dem einen oder anderen interessanten Ausstiegs-Mantle à la Fontainebleau.

 

Unser Fazit:

hier ist inmitten einer wunderschöner Gebirgslandschaft, die man aufgrund der freien Lage vieler Boulderprobleme auch durchaus genießen kann, bereits jetzt ein Gebiet von höchster Qualität entstanden, das Schwierigkeiten in Hülle und Fülle für jede Könnensstufe im Angebot hat - in Deutschland in dieser Art auf jeden Fall einmalig.

Aber auch im internationalen Vergleich braucht sich dieser Boulderspot wahrlich nicht zu verstecken. Gekletterte Schwierigkeiten bis Fb 8b sind ein Maß dafür, was das Gebiet auch an Boulderproblemen auf höchstem Niveau zu bieten hat.

Was Hinterstein aber darüber hinaus von vielen anderen Topgebieten wohltuend unterscheidet, ist die unglaubliche Vielseitigkeit der vorgefundenen Boulderprobleme. Es gibt in Hinterstein neben unzähligen mittelhohen Blöcken durchaus eine ganze Reihe eher kleinerer Blöcke, die auch dem Boulderfreund, der nicht so sehr auf extrem hohe Boulder mit gefährlichstem Absprunggelände steht, tolle Möglichkeiten in Hülle und Fülle bieten. Doch auch der "Highball-Freund", welcher sich erst mehrere Meter über Grund so richtig wohl fühlt, wird sich bei einer ganzen Reihe von Problemen nicht beschweren können, denn im Felsrutsch von Hinterstein gibt es natürlich auch eine ganze Reihe von Brocken, die nahezu 10 m in den Himmel ragen.

Kurz gesagt, das Angebot im Bereich der Blockhöhen ist jedenfalls genau wie bei den Schwierigkeiten, sowie bei der Art der Kletterei: ungemein breit gefächert.

Hinterstein ist also ein Gebiet, das man sich auf jeden Fall merken sollte und an dem der wahre Boulderfreund sicherlich eine Menge Spaß haben wird.

Dem Gebiet wurde im aktuellen Boulderführer Allgäu Block (3. Auflage 10/2015) ein umfassendes Kapitel mit 93 Seiten gewidmet.

Basisinfos und viele Bilder gibts auf der blocheart-Seite zum Gebiet.

 

 

**Für all diejenigen die mit dem Begriff Boulderparcour noch nichts anfangen können, ein Boulderparcours besteht aus einer ganzen Anzahl einzelner Boulderprobleme die jeweils eine fortlaufende Nummer erhalten welche in einer bestimmten Farbe am Fels angeschrieben wird. Die Schwierigkeiten der Probleme innerhalb eines solchen Parcours sollten idealerweise relativ ähnlich ausfallen. Der Weiterweg von Problem zu Problem wird häufig ebenfalls mit kleinen farbigen Pfeilen versehen, so dass man die Einzelprobleme im Blockgewirr auch möglichst einfach finden kann. So eine Parcour erhält anschließend noch eine Gesamtbewertung. Vorbild für derartige Parcours war auch hier einmal mehr Fontainebleau das französische Topgebiet für den Bouldersport.

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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